Mehr Schein als Sein
Zur aktuellen Debatte um die Erhöhung des Bürgergeldes
Die Regelsätze des Bürgergelds werden zum 01. Januar 2024 von derzeit 502 Euro auf 563 Euro (für Alleinstehende) erhöht, was einer Anhebung von 12 % entspricht. Grundlage hierfür ist ein gesetzlich festgelegter Anpassungsmechanismus. Dieser wurde erst durch die Bürgergeldreform 2022 so verändert, dass die Regelsätze nun schneller an die aktuelle Preisentwicklung angepasst werden. Die Erhöhung berücksichtigt also lediglich die starke Inflation und dürfte eigentlich keine große Aufregung verursachen. Gleichwohl wurden Stimmen laut, die die Erhöhung als zu hoch kritisierten und die Frage stellten, ob Arbeit sich überhaupt noch lohne.
Garantieren 502 Euro das soziokulturelle Existenzminimum?
Das Bürgergeld soll als Grundsicherungsleistung das soziokulturelle Existenzminimum absichern. Es soll so allen Empfänger*innen ermöglichen genügend Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel etc. kaufen, als auch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (z.B. durch Mobilität durch das Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs, dem Besuch gesellschaftlich relevanter Orte des sozialen Lebens wie Kinos etc., oder dem Zugang zu Medien, wie Bücher oder Tageszeitungen). Dass dies alles mit 502 Euro nur schwer machbar ist, ist offenkundig. Grund hierfür ist, dass die Berechnungsgrundlage für das Bürgergeld nicht etwa am Bedarf ausgerichtet ist, also die Frage stellt welche Bedarfe zu einem soziokulturellen Existenzminimum gehören. Stattdessen orientiert sich die Regelbedarfsermittlung an den Konsumausgaben der einkommensschwächsten Haushalte, die selbst nicht all ihre Bedarfe decken können, und kürzt diese um „nicht regelbedarfsrelevante“ Posten. Diese Methode des „Kleinrechnens“ hat schwerwiegende Folgen. Der wahre Empörungsgrund liegt also darin, dass die bisherige Berechnung der Regelsätze das tatsächliche soziokulturelle Existenzminimum deutlich unterschätzt und die Regelsätze des Bürgergeldes nach zahlreichen Berechnungen von Sozialverbänden und Forschungsinstituten deutlich höher liegen müssten, um den materiellen Bedarf und die gesellschaftliche Teilhabe von Beziehern zu sichern.
12 % - zu viel oder doch eher zu wenig?
Eine Erhöhung von 12 % hört sich erstmal nach viel an. Wenn man jedoch bedenkt, dass diese Erhöhung sich auf ein deutlich zu niedriges Niveau bezieht, wird schnell klar, dass die 12 % sich nach mehr anhören als sie sind. Das wird besonders deutlich, wenn man sich haushaltsspezifische Inflationsraten ansieht. Wie stark man durch die aktuellen Preissteigerungen belastet ist, hängt davon ab, welche Güter man konsumiert, denn nicht alles wird in gleichem Maße teurer. Seit Beginn der durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine stark gestiegenen Inflationsraten im Frühjahr 2022 sind es vor allem Nahrungsmittel- und Energiepreise, die die Inflationsrate nach oben treiben. So weist das Statistische Bundesamt aus, dass alleine Nahrungsmittel im Juli 2023 um 11 % teurer waren als noch im Juli 2022. Zwischenzeitlich sogar um bis zu 22 %. Dies trifft alle Haushalte – einkommensschwache jedoch besonders hart, da an Nahrungsmittel und Energie kaum gespart werden kann und diese ohnehin einen großen Teil ihrer Ausgaben ausmachen.
Problematisch ist auch, dass die neue inflationsbedingte Anpassung nur einmal jährlich erfolgt. Die Erhöhung auf 563 Euro zum 1. Januar 2024 berücksichtigt also die Preissteigerungen (bis Ende Juni) 2023 und soll diese rückwirkend ausgleichen. Das bedeutet, dass Bürgergeldbeziehende keinen Ausgleich für aktuelle Preissteigerungen bekommen, also immer konstant zu wenig gemessen am aktuellen Preisniveau zur Verfügung haben. Die laufende Inflation frisst die Erhöhung letztlich vollständig auf und bedeutet reale Kaufkraftverluste, wie der DGB in einer Studie berechnet hat.
Politik zulasten der Schwächeren
Politiker von CDU und FDP, Lobbyisten und arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitute nutzen die Erhöhung dazu, Arbeitnehmer und Arbeitslose gegeneinander auszuspielen. Sie bemühen das alte Zerrbild des arbeitsunwilligen Erwerbslosen und vergleichen durchschnittliche Lohnsteigerungen mit der Inflationsanpassung der Regelsätze. So argumentiert der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Spahn in der „Bild“-Zeitung „Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet“, und fordert Strafen für Bürgergeld-Bezieher, die angebotene Arbeit oder Qualifizierung ablehnen. Dabei ist vielfach belegt, dass die aufgestellten Behauptungen schlicht falsch sind, da sie auf unzulässigen Vergleichen beruhen und mit falschen Zahlen arbeiten (zum Hintergrund siehe hier). Anlässlich der aktuellen Debatte hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans Böckler Stiftung erst wieder dargelegt, dass man in allen denkbaren Konstellationen mehr Geld hat, wenn man arbeitet. Bei Alleinstehenden, die in Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten, sind es im Durchschnitt 532 Euro mehr; bei Familien mit drei Kindern und einem Mindestlohneinkommen sind es je nach Alter der Kinder zwischen 446 und 788 Euro. Grund ist, dass Geringverdienende Anspruch auf zusätzliche Leistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag und einen größeren Freibetrag beim Erwerbseinkommen haben.
Hinzu kommen Argumentationsmuster, die ganz offensichtlich fremdenfeindliche Ressentiments bedienen sollen, um Wählerstimmen am rechten Rand zu gewinnen. So verbindet der Bundesvorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel, seinen Hinweis auf den hohen „Ausländer-Anteil“ unter Bürgergeld-Beziehenden mit der Feststellung, dass die Ampel immer stärkere Anreize für Migration unqualifizierter Menschen setzen würde, die unmittelbar im Sozialstaat ende. Auch hier wissen wir: Die überwältigende Mehrheit der Menschen möchte gesellschaftlich Fuß fassen und arbeiten.
Im Schatten dieser Debatte, erfolgen laut aktuellen Haushaltsentwurf der Bundesregierung Einsparungen, die gerade massiv zu Lasten besonderes einkommensschwacher und vulnerabler Gruppen gehen. Dabei sollte die Lösung in der Befähigung und Unterstützung der Betroffenen liegen. Doch laut Haushaltsplan soll bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende um 700 Mio. Euro im Vergleich zum Vorjahr gekürzt werden. Dies ist dramatisch, weil mit dem Bürgergeldgesetz gerade erst neue Instrumente und Unterstützungsmöglichkeiten geschaffen wurden, um die Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration langzeitarbeitsloser Menschen zu stärken. Diese Instrumente kosten jedoch Geld. Die vorgesehenen Kürzungen können diese Vorhaben konterkarieren. Ohne auskömmliche Finanzierung und langfristige Perspektiven droht dieser positive Ansatz im Keim erstickt zu werden.
Sachlichkeit und Solidarität ist angesagt
Höchste Zeit, sich nicht weiter einfangen zu lassen, von geschürten Neiddebatten. Statt dem konservativen und neoliberalen Narrativ zu folgen, das zum Ziel hat Arbeitnehmer und Erwerbslose gegeneinander auszuspielen, bedarf es Sachlichkeit und einer solidarischen Gegenerzählung. Fakt ist: eine bedarfsgerechte Grundsicherung und eine leistungsgerechte Arbeitsmarktpolitik schließen sich nicht aus. Es gibt viele Möglichkeiten, die Einkommenssituation von Arbeitenden, insbesondere im unteren Einkommensbereich zu verbessern, ohne dies auf Kosten der Grundsicherungsempfänger zu tun. Das grundsätzliche Problem ist ein wachsender prekärer Arbeitsmarkt, der Armut trotz Arbeit nicht verhindert und es gleichzeitig vielen Erwerbslosen erschwert, im Arbeitsmarkt nachhaltig Fuß zu fassen. Doch gerade diejenigen, die vermeintlich als Anwälte der hart arbeitenden Leute gegen das Bürgergeld agitieren, wollen daran wenig ändern. Eine angemessene Erhöhung des Mindestlohns (die geplante Erhöhung des Mindestlohns um nur 41 Cent im nächsten Jahr ist eine Farce, die auch für Mindestlohnarbeitende eine reale Entwertung ihrer Kaufkraft bedeuten wird) und Tariftreuegesetz sind hier zu nennen. Starke Gewerkschaften und gute Tarifverträge sind weitere Schlüssel für gute Arbeit und Löhne für alle – um Druck auf Politik und Arbeitgeber auszuüben.
Verteilungsfrage stellen
Eine Grundsicherung, die wirklich ein soziokulturelles Existenzminimum absichert, ein Arbeitsmarkt der Menschen nicht schutzlos zurücklässt und gute Löhne für alle. All dies ist in einer reichen Gesellschaft wie unserer möglich. Das Geld ist vorhanden, es muss nur anders verteilt werden. Es braucht eine gerechte Besteuerung von Einkommen, vor allem aber Vermögen, Kapital und großen Erbschaften. Und auch die Schuldenbremse muss weichen, um den Sozialstaat gut auszustatten und Zukunftsinvestitionen zu ermöglichen.