Recht auf Ruhestand
Ja zur Rente mit 63!
Mit der abschlagsfreien Rente für besonders langjährig Versicherte nach 45 Beitragsjahren hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, ab dem 63. Lebensjahr ohne Abschläge aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Auch wenn dies, aufgrund der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, für zukünftige Rentnerinnen und Rentner erst ab dem 65. Lebensjahr möglich ist, hat sich hierfür der Begriff „Rente mit 63“ in der öffentlichen Debatte durchgesetzt.
Bereits bei ihrer Einführung zum 01.07.2014 war die „Rente mit 63“ umstritten und wurde von Gewerkschaften und Sozialverbänden gegen den Willen der Arbeitgeber durchgesetzt. Die „Rente mit 63“ ist somit ein Erfolg derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sich für einen starken Sozialstaat und ein leistungsfähiges, umlagefinanziertes Rentensystem stark machen.
Die Argumente gegen die „Rente mit 63“ haben sich seitdem kaum verändert. Sie sei ungerecht, insbesondere gegenüber zukünftigen Generationen. Sie verschärfe den Fachkräftemangel. Und sie sei angesichts ohnehin steigender Kosten für die Alterssicherung nicht finanzierbar.
Es sind die gleichen Arbeitgeberverbände, wirtschaftsnahen Institute und Journalisten, die in regelmäßigen Abständen alte Argumente in leicht veränderten Gewändern präsentieren und für weitere Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Rentenversicherung trommeln. Doch auch noch so lautes Trommeln ändert nichts an der Tatsache, dass die vorgetragenen Argumente in die Irre führen.
Fachkräftemangel als Totschlagargument – Flexibilisierung als Scheinlösung
Zunächst zum derzeit beliebtesten Totschlagargument der Arbeitgeberverbände und Wirtschaftsinstitute: Die „Rente mit 63“ verschärfe den ohnehin dramatischen Anstieg des Mangels an Fachkräften und müsse daher schnellst möglich abgeschafft werden. Statt Optionen für einen frühzeitigen Ruhestand zu schaffen, müsse das Rentenrecht weiter flexibilisiert werden, so dass jeder und jede selbst entscheiden könne, wann der richtige Zeitpunkt zum Ausstieg aus dem Erwerbsleben gekommen sei.
Ein solches Argument verfängt in der öffentlichen Debatte, weil es vermeintlich einfache ökonomische Zusammenhänge behauptet und dazu noch Lösungen präsentiert, die für manche auf den ersten Blick zumindest plausibel erscheinen. Bei näherem Hinsehen sind die Zusammenhänge jedoch alles andere als eindeutig und die angebotenen Lösungsansätze entpuppen sich als Scheinlösungen.
Schon über die Frage, ob und in welchem Umfang es den von Arbeitgebern und wirtschaftsnahen Wissenschaftlern immer wieder behaupteten Fachkräftemangel überhaupt gibt, lässt sich trefflich streiten. Sowohl die Bundesregierung als auch führende Arbeitsmarktforscher weisen jedenfalls darauf hin, dass von einem „umfassenden Fachkräftemangel“ nicht gesprochen werden kann [hier und hier]. Was es sehr wohl gibt sind Fachkräfteengpässe in bestimmten Branchen und Regionen. Und auch dann sind die Ursachen komplex. In vielen Fällen können die Engpässe in erster Linie mit einer verfehlten und kurzsichtigen Personalplanung der Unternehmen erklärt werden und nicht durch strukturelle Faktoren.
Selbst dort, wo sich der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften in den kommenden Jahren absehbar zuspitzen wird – beispielsweise in der Pflege oder den Kindertageseinrichtungen – wird wohl kaum jemand behaupten, dass dieser Mangel durch die „Rente mit 63“ hervorgerufen wird, geschweige denn durch ihre Abschaffung gelöst werden könnte. Wer solche strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes angehen will, sollte den Blick auf Arbeitsbedingungen, Entlohnung, Aus- und Weiterbildungsangebote und andere flankierende arbeitsmarktpolitische Instrumente richten, statt die Lösung im Rentenrecht zu suchen.
Ohnehin bietet bereits das heutige Rentenrecht (Stichwort: Flexirente) genügend Möglichkeiten für flexible Beschäftigung vor und nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze. Erwerbsaustritt und Rentenbeginn sind daher unabhängig voneinander zu betrachten. Die Vorschläge zur Abschaffung der Regelaltersgrenzen und zur weiteren Flexibilisierung des Rentenrechts würden zu einer vollständigen Auflösung der Grenze zwischen Erwerbsleben und Ruhestand führen. In letzter Konsequenz würde Ruhestand zum Luxusgut, das sich nur noch wenige leisten können. Für alle anderen bedeutet Flexibilisierung nichts Anderes als „Arbeiten ohne Ende“. Das Recht auf Ruhestand wäre somit nur noch ein Privileg für Gutverdienende und Wohlhabende.
Für eine abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren
In der Argumentation gegen die „Rente mit 63“ offenbart sich letztlich die gesamte Philosophie und Stoßrichtung der Ruhestandsgegner und Flexibilisierungsbefürworter. Der Mensch wird lediglich als Inputfaktor des marktwirtschaftlichen Verwertungs- und Produktionsprozess in den Blick genommen und nicht als vollwertiges Individuum. Die Frage des Erwerbsausstiegs wird daher auch nicht aus der Perspektive von erbrachten Lebensleistungen und erworbenen Rechtsansprüchen oder einer humanistischen Fragestellung nach altersgerechten Arbeitsbedingungen betrachtet, sondern lediglich auf der Grundlage der ökonomischen Erfordernisse des Marktes diskutiert.
Als Gewerkschaften sollten wir auf die Beschränktheit eines solchen Blickwinkels hinweisen und eine andere Perspektive einnehmen. Unser politisches Handeln fußt auf einem humanistischen Menschenbild, das den Menschen als vollständiges Individuum in den Blick nimmt und nicht als bloßen Anbieter menschlicher Arbeitskraft.
Eine solche Sichtweise hat Konsequenzen, auch wenn es um Fragen des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und die „Rente mit 63“ geht. Erstens sorgt die Rente für besonders langjährig Versicherte für mehr Leistungsgerechtigkeit im Rentenrecht. Denn langjährige Beitragszahler zahlen viel und erhalten vergleichsweise wenig. So wissen wir, dass langjährig Versicherte ihre Rente deutlich kürzer beziehen als die durchschnittliche Bezugsdauer der Altersrenten in Deutschland. Besonders belastete Beschäftigtengruppen – von den viele die Voraussetzungen für den Bezug einer abschlagsfreien Rente ab 63 erfüllen – haben außerdem eine deutlich geringere Lebenserwartung als Menschen mit weniger belastenden Tätigkeiten. Eine Gerechtigkeitslücke, die meist unterschlagen und durch die „Rente mit 63“ zumindest verringert wird.
Zudem weisen typische Erwerbsverläufe von Menschen in Berufen mit besonderen physischen und psychischen Belastungen neben einem frühen Einstieg ins Berufsleben auch einen frühen Erwerbsaustritt auf. Körperlich verschleißende Arbeit fordert nicht nur beim vielzitierten Dachdecker ihren Tribut: Für Maler und Lackierer ist durchschnittlich mit knapp 63 Jahren Schluss, in Elektroberufen mit rund 6o und beim Hoch- und Tiefbau mit weniger als 58. Auf die Betroffenen warten dann Krankheit, Arbeitslosigkeit und am Ende gekürzte Renten. Mit der „Rente mit 63“ gibt es nun für mehr Beschäftigte die Chance, dass am Ende des Erwerbslebens die Brücke in die Rente besser trägt und ihnen Abschläge und Mini-Renten erspart bleiben.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen sozioökonomischen Unterschiede in der durchschnittlichen Bezugsdauer der Altersrente, ist die „Rente mit 63“ ein wichtiger Beitrag für mehr Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. Zum Problem hingegen wird eine ganz andere rentenrechtliche Regelung: Die schrittweise Erhöhung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre und der parallele Anstieg der Rente für besonderes langjährig Versicherte auf 65 Jahre. Statt einer Abschaffung der „Rente mit 63“, braucht es vor dem Hintergrund der vor uns liegenden Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft mehr Optionen für sichere und flexible Übergänge in den Ruhestand. Um auch zukünftigen Generationen Brücken in den Ruhestand zu ermöglichen, fordert die IG Metall daher die Einführung eines dauerhaften Rentenzugangs ohne Abschläge für besonders langjährig Versicherte mit 63 nach 45 Versicherungsjahren. Kurzum: Ja zur Rente mit 63!
Hier gibt es das Rentenkonzept der IG Metall