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Sozialwahl und soziale Selbstverwaltung

Wichtige Säulen der Demokratie

Alle 6 Jahre werden die Versicherten der Krankenkassen, Rentenversicherung und Unfallversicherungsträger dazu aufgerufen, die Selbstverwaltungsgremien ihrer Sozialversicherungsträger zu wählen. Der nächste Wahltag ist der 31. Mai 2023. Bis dahin müssen die Versicherten ihre Stimmen abgegeben haben, per Briefwahl oder bei einigen Trägern zum ersten Mal auch online.

Doch was genau sind diese Selbstverwaltungsgremien? In den gesetzlichen Krankenversicherungen sind es die Verwaltungsräte, bei den Berufsgenossenschaften und Trägern der Rentenversicherung die Vertreterversammlungen. Ein unscharfer, aber niedrigschwelliger Vergleich ist der zu Aufsichtsräten eines Unternehmens. Die Verwaltungsräte und Vertreterversammlungen wählen die Geschäftsführungen der Träger, bestimmen unterjährig über politische Leitlinien und Leistungsgeschehen mit (wo es nicht gesetzlich vorgegeben ist) und verabschieden die Haushalte. Letzteres wird in Lehrbüchern der Politikwissenschaft durchweg als Königsrecht eines jeden Parlaments bezeichnet.

Die Verwaltungsräte und Vertreterversammlungen bestehen in der Regel aus zwei Bänken, einer Versichertenbank und einer Arbeitgeberbank. So spiegelt sich der elementare Gedanke der Selbstverwaltung wieder: Die Träger der Sozialversicherungen sind nach § 29 SGB IV selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts, in denen diejenigen, die die Sozialversicherungsbeiträge bezahlen, diese eben selbst verwalten. Eine Ausnahme bildet die Bundesagentur für Arbeit, sie ist ein „staatsnaher“ Versicherungsträger mit einer dritten Bank, die den Staat repräsentiert. Aufgrund dieser Staatsnähe wird nicht gewählt, sondern benannt bei allen Bänken.

Bei den gesetzlichen Krankenkassen, den Berufsgenossenschaften und den Rentenversicherungsträgern wird jedoch gewählt. Unterschieden wird hier zwischen zwei Wahlverfahren, der Friedens- und der Urwahl. Zu einer Friedenswahl kommt es, wenn nur eine Liste eingereicht wird, bzw. mehrere Listen, die aber insgesamt nicht mehr Bewerber *innen auf sich versammeln, als es zu wählende Plätze gibt. Diese gelten dann automatisch als gewählt, es kommt zu einer Wahl ohne Wahlhandlung, während Versicherte bei einer Urwahl eine Wahlhandlung vollziehen müssen, also aus verschiedenen Listen eine wählen.

 

Sozialwahlmodernisierungsgesetz

Bei der überwiegenden Mehrheit der Versicherungsträger kommt es zu Friedenswahlen. Kritiker der Sozialwahl führen dies häufig als Grund der geringen Bekanntheit dieser Wahl an und attestieren der Friedenswahl darüber hinaus gerne ein Demokratiedefizit.

Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber mit dem Sozialwahlmodernisierungsgesetz 2020 Reformen auf den Weg gebracht, die Urwahlen befördern sollen (z.B. die Absenkung des Unterschriftenquorums das es braucht, um bei einem Träger antreten zu können). Es enthält vor allem vereinfachte Regelungen zur Listeneinreichung, die es mehr Einzelpersonen, Wahlvereinen oder sonstigen Organisationen erlauben soll, Listen einzureichen. Doch ist das demokratischer?

Gewerkschaften sind per Gesetz (und auch ganz ohne großen Formalismus in der Gesellschaft) als legitime Vertreterinnen der Interessen von abhängig Beschäftigten anerkannt. Sie vereinen eine große Gemeinschaft, ihre Organisationen sind demokratisch aufgebaut und bieten ihren Mitgliedern breite Beteiligungsmöglichkeiten. Bis hin zu den obersten beschlussfassenden Organen, den Gewerkschaftstagen oder –kongressen, auf denen Delegierte politische Beschlüsse fassen, die für die Gewerkschaften bindend und so auch für die Arbeit in den Selbstverwaltungsgremien relevant sind. Unter dem Dach des DGB vereinen sich rund 5,7 Millionen Gewerkschaftsmitglieder. Alleine die IG Metall als größte Einzelgewerkschaft hat 2,17 Millionen Mitglieder. Sie alleine hat fast doppelt so viele Mitglieder wie alle im Bundestag vertretenen Parteien zusammen. Die Antwort darauf, inwiefern Einzelpersonen die Unterschriften sammeln, um sich nur zum Zwecke der Sozialwahl zu Vereinen zusammenschließen und dabei weder über ein sozialpolitisches Programm noch über eine demokratische Rückbindung zu großen Gruppen von Versicherten (wie es Gewerkschaften tun) verfügen, demokratischer sind, lässt sich vor diesem Hintergrund nur schwer erschließen.

Insgesamt scheint es fraglich, die mangelnde Bekanntheit der Sozialwahl und sozialen Selbstverwaltung durch mehr Urwahlen zu fördern. Vielmehr sind die Träger der Sozialversicherungen, die listentragenden Organisationen, aber auch die Selbstverwalter*innen selbst gefragt, das Engagement und die Erfolge der Selbstverwaltung, die sie in den Gremien für Versicherte erstreiten, sichtbarer zu machen.

 

Gewerkschaftliche Interessenvertretung – nah am Menschen

Seit Jahrzehnten positionieren sich Gewerkschaften in der Auseinandersetzung um einen immer weiter reichenden Sozialstaatsabbau. Immer mit dem klaren interessenspolitischen Anspruch, eine gute soziale Sicherung für Kolleg*innen zu erkämpfen. Dieser Kampf um einen guten Sozialstaat wird jedoch nicht nur auf oberster politischer Ebene geführt. Die Selbstverwalter*innen führen den Kampf um einen guten Sozialstaat konkret (und gar nicht so sehr „im Kleinen“) in den Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen parallel. Nachdem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Privatisierungstendenzen im Zuge des Sozialstaatsabbaus der letzten Jahrzehnte ohnehin schon für vieles individuell aufkommen müssen, was eigentlich Aufgabe kollektiver Absicherung wäre, ist es für sie keine Lappalie, welche Leistungen sie von den Sozialversicherungen bekommen.

Es ist keine Lappalie, ob Krankenkassen ihren Versicherten über das gesetzliche Leistungsniveau hinausgehende Zuschüsse für Hörgeräte, Reiseimpfungen oder Zahnersatz leisten, ob sie ein gutes Krankengeldmanagement haben, ob sie ihre Tätigkeiten im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung im Sinne der Verhältnis- statt Verhaltensprävention betreiben (und auch mal Betriebsratsbüro anrufen, statt sich nur an die Personalabteilung zu wenden). Auch nicht, wie die Rehakliniken der Deutschen Rentenversicherung ausgestattet sind oder welche Aktivitäten die Berufsgenossenschaften in Sachen Arbeitsschutz entfalten. Hier kümmern sich gewerkschaftliche Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter um konkrete Probleme, die in der Lebenswirklichkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorzufinden sind.

Gewerkschaften sorgen für gute Tarifverträge, die gute Entgelte garantieren. Aber auch dafür, dass Kolleg*innen für ihre Sozialversicherungsbeiträge (und die der Arbeitgeber) gute Leistungen bekommen. Häufig entstehen solche Leistungsausweitungen auf Initiativen der Versichertenvertreter in den Selbstverwaltungsgremien. Das zeigt, wie wichtig die Übernahme dieser wichtigen Ehrenämter durch aktive Gewerkschafter*innen ist. Und es signalisiert auch: Kolleginnen und Kollegen – wir sind auch außerhalb betrieblicher Fragen für euch da! Gewerkschaft bedeutet gemeinsam für eine Gesellschaft einzutreten, in der alle Chancen auf ein gutes Leben haben. Ohne ein explizites Bekenntnis zu einem Engagement für eine Sozialpolitik, die abhängig Beschäftigten dient, ist dies nicht möglich. Die soziale Selbstverwaltung ist und bleibt daher ein wichtiges Betätigungsfeld der Gewerkschaften.

 

 

Hinweis: Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung eines Textes, der in der Ausgabe 6-7/2022 der Fachzeitschrift Gute Arbeit erschienen ist.