Rente für Fachkräfte erst mit 70?
Kein Beitrag zur Fachkräftesicherung, sondern eine Unverschämtheit.
Einer der großen sozialpolitischen Streitpunkte ist immer wieder das Alter, ab dem Beschäftigte ohne Abschläge in Rente gehen können. Nachdem über viele Jahre die gesetzliche Regelaltersgrenze bei 65 Jahren lag, wurde 2006 eine schrittweise Erhöhung auf 67 Jahre eingeführt. In der Folge müssen Beschäftigte hohe Abschläge bei ihrer Rente in Kauf nehmen, wenn sie vor Erreichen des Regelalters nicht mehr arbeiten können.
Noch ist die Erhöhung auf 67 Jahre nicht vollständig umgesetzt. Dennoch wird bereits aus vielen Ecken des Arbeitgeberlagers und von vermeintlichen Experten eine weitere Erhöhung der Altersgrenze gefordert. Das typische Argument für diese Forderung lautet: wenn Menschen immer älter werden, müssen sie auch länger arbeiten, um das Rentensystem bezahlbar zu erhalten. Warum dieses Argument hochproblematisch ist und die IG Metall die Erhöhung des Rentenalters für einen der größten sozialpolitischen Fehler in der Geschichte der Bundesrepublik hält, steht hier.
In jüngster Zeit wird das genannte Argument um eine Variante ergänzt: Durch den Eintritt in die Rente der geburtenstarken „Babyboomer-Jahrgänge“ verliert der deutsche Arbeitsmarkt eine Vielzahl an Fachkräften, die aber weiterhin dringend benötigt würden. Da aufgrund niedriger Geburtenraten nicht hinreichend viele Fachkräfte nachkommen, müssten künftig die Älteren regelmäßig deutlich länger arbeiten.
Gegen eine Erhöhung des Rentenalters aus Gründen des Fachkräftemangels sprechen aber eine Reihe gewichtiger Argumente.
In vielen Betrieben werden Beschäftigte ab dem 50. Lebensjahr seltener weiterqualifiziert, so dass sie Gefahr laufen, bereits vor Erreichen des Rentenalters nicht mehr den beruflichen Anforderungen zu genügen. Unsere Wirtschaft steht vor einem gewaltigen Umbruch, soll der Umstieg auf klimafreundlichere Produktion gelingen. Mit der Stahl-, der Metall- und Elektroindustrie sind maßgeblich auch die Industrien betroffen, deren Beschäftigte in der IG Metall organisiert sind. Dabei wird es zum Auf- und Abbau von Arbeitsplätzen kommen, die allerdings nicht nur in unterschiedlichen Branchen und Wirtschaftszweigen, sondern in ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands liegen. Aber auch innerhalb einer Branche wird es massiv unterschiedliche Entwicklungen zwischen unterschiedlichen Unternehmen und selbst innerhalb derselben Betriebe geben, denn bestimmte Qualifikationen werden künftig nicht mehr, andere Qualifikationen hingegen ganz dringend gebraucht werden. Die Mobilität älterer Beschäftigter ist jedoch deutlich eingeschränkt. Weder ist es älteren Beschäftigten ohne weiteres möglich, ihr persönliches Glück fern der Region zu suchen, in der sie sich mit ihrer Familie ein Zuhause eingerichtet haben, noch ist in höherem Alter ohne weiteres eine Umqualifizierung erfolgreich. Eine Studie des IAB zeigt, dass sich selbst bei Tätigkeiten mit niedrigen fachlichen Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt für ältere Beschäftigte keine nennenswerte Perspektiven bieten.
In derselben Studie ist nachzulesen, dass in den letzten Jahren der Anteil an 55- bis 64-Jährigen, die erwerbstätig sind oder nach einer Erwerbsarbeit suchen, von rund 50 Prozent auf knapp 77 Prozent gestiegen ist. Dennoch geht (trotz Abschlägen bei der Rente) dem Arbeitsmarkt noch immer ein knappes Viertel des Erwerbstätigen-Potenzials verloren. Und Ältere, die arbeitslos werden, haben mit 41 Prozent ein erhebliches Risiko, langzeitarbeitslos zu werden.
Demgegenüber hatte sich, ebenfalls laut IAB, der Anteil an Unternehmen, die rentenberechtigte Beschäftigte in Arbeit halten wollen, von einem Viertel im Jahr 2015 bereits 2018 mehr als verdoppelt. Diesem deutlich gewachsenen Wunsch vieler Unternehmer kann freilich bereits heute unproblematisch entsprochen werden, und dies ganz ohne Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters. Selbstverständlich besteht auch heute keine Pflicht der Beschäftigten, mit Erreichen des gesetzlichen Rentenalters aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Und ebenso selbstverständlich wird auch kein Unternehmen in seiner Freiheit eingeschränkt, Personal zu halten, das die Altersgrenze überschritten hat. Im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit können Arbeitgeber also selbstverständlich Älteren Stellenangebote machen, die bei entsprechender Attraktivität auch angenommen werden – und hier ist des Pudels Kern: in vielen Fällen bieten die Unternehmen den Menschen nicht die Wertschätzung, das Entgelt und die Arbeitsbedingungen, unter denen diese zu arbeiten bereit sind, sobald sich für sie eine halbwegs auskömmliche Rentenperspektive eröffnet hat. Denn ganz unabhängig vom Alter potentieller Beschäftigter ist zu beachten, dass häufig Fachkräftemangel seinen Grund in zu schlechten Arbeits- und Entgeltbedingungen hat. Tätigkeitsfelder mit guten Bedingungen, die außerdem als sinnstiftend wahrgenommen werden und die gesellschaftliche Achtung erfahren, sind nicht oder weniger von Mangel an interessierten und qualifizierten Beschäftigten betroffen.
Es wäre völlig falsch, wenn die Politik die Attraktivität schlechter Arbeit dadurch erhöhen würde, dass man Alternativen zu derartiger Arbeit , wie etwa den wohlverdienten Renteneintritt, erschwert.
Im Gegensatz zur Ausweitung der Lebensarbeitszeit wäre hingegen zielführend, andere Ursachen von Arbeitskräftemangel in den Fokus zu rücken und vorrangig zu behandeln. Aus Sicht der IG Metall sind hier neben alternsgerechten Bedingungen, unter denen Beschäftigte länger gesund arbeiten können, die Bekämpfung von ungewollter Teilzeit bei Frauen, die Bereitstellung von guten Ausbildungsplätzen für die junge Generation und die Integration von (Langzeit-) Arbeitslosen in qualifizierte Tätigkeiten zu nennen.