Schon wieder kleingerechnet!
Mit dem Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales zum neuen „Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes“ (RBEG) wurden die Regelsätze von Hartz IV ab 2021 neu berechnet. Dabei wurde erneut die Chance vertan, die Berechnung auf eine seriöse wissenschaftliche Grundlage zu stellen um eine realistische, bedarfsgerechte Leistungshöhe zu ermitteln.
Bei der Berechnung der Regelsätze wird ein Bedarf ermittelt, der das Existenzminimum und eine Teilhabe am soziokulturellen Leben sicherstellen soll. Dabei wird der Regelbedarf meist als Thema von Langzeitarbeitslosen wahrgenommen. Unmittelbar betroffen sind aber erheblich mehr Menschen, insgesamt über 8 Prozent der Bevölkerung: 5,35 Millionen Arbeitssuchende nach SGB II, 1,01 Millionen Grundsicherungsbezieher im Alter und bei Erwerbsminderung, 370.159 Sozialhilfebezieher und 411.211 Asylbewerber. Viele von ihnen haben zwar ein Einkommen, das aber so gering ist, dass es aufgestockt werden muss. Der Regelbedarf ist auch für 6,9 Millionen Volljährige relevant, die in Deutschland offiziell verschuldet sind, er ergibt für sie die Pfändungsfreigrenze.
Nicht zuletzt ist der Regelsatz auch für alle Beschäftigten von Bedeutung. Denn er markiert das Maß des möglichen sozialen Abstiegs bei Arbeitsplatzverlust. Aus Sorge vor Hartz IV steigt bei vielen die Bereitschaft, Zugeständnisse bei Arbeitsbedingungen und Entgelten zu machen.
Berechnungsmethode kritikwürdig
Die Regelsatzhöhe hat somit eine erhebliche gesellschaftliche Bedeutung. Es verwundert daher nicht, dass diesbezüglich vielfach politische und juristische Auseinandersetzungen geführt werden. Das Bundesverfassungsgericht musste mehrmals entscheiden, verfassungswidrige Berechnungen mussten berichtigt und der Regelsatz mehrfach erhöht werden. Die Berechnungsgrundlagen bleiben jedoch weiterhin kritisch.
Grundlage unverändert
Grundlage der Bedarfsermittlung ist eine Sonderauswertung der vom statistischen Bundesamt ermittelten Konsumausgaben. Berücksichtigt werden lediglich 15 Prozent der Alleinstehenden-Haushalte und 20 Prozent der Paar-Haushalte mit den jeweils niedrigsten Einkommen. Erhoben wird jedoch nicht der Bedarf dieser Haushalte, sondern nur, was sie für Ernährung, Freizeitaktivitäten etc. tatsächlich ausgeben können. Diese Ausgaben werden also mit dem Existenzminimum gleichgesetzt. Unberücksichtigt bleiben damit sämtliche Bedarfe, die vorhanden sind, von den erfassten Haushalten aus Finanznot jedoch nicht gedeckt werden können.
Diese Schieflage wird dadurch verstärkt, dass sogenannte „verdeckte Armut“ unberücksichtigt bleibt. Dies bedeutet, dass auch Haushalte zur Grundlage der Bedarfsermittlung herangezogen werden, deren Einkommen unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegen. Das Arbeits- und Sozialministerium argumentiert, dass sich die „verdeckte Armut“ nicht erfassen lasse und daher diese Haushalte nicht fehlerfrei herausgerechnet werden könnten. Das überzeugt nicht. Verdeckte Armut könnte zumindest näherungsweise herausgerechnet werden – anstatt sie zulasten der Betroffenen zu ignorieren.
Nichtberücksichtigung von Ausgaben
Einige Ausgaben der ausgewerteten Haushalte werden außerdem herausgerechnet, weil sie für den Regelsatz als nicht relevant bewertet werden. Nachvollziehbar ist dies etwa bei den Rundfunk-Gebühren, von denen Leistungsbezieher befreit sind. Aber auch Ausgaben für Alkohol, Tabak, Gastronomie und Pflanzen (vom Blumentopf bis zum Weihnachtsbaum) werden nicht als Bestandteile des Existenzminimums anerkannt. Dies ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen sollte jeder Mensch entscheiden können, zumindest einmal im Jahr ein Eis zu essen oder sogar mal mit dem Kind ins Kino gehen zu können. Zum anderen verzichten vermutlich auch viele Haushalte mit sehr niedrigen Einkommen nicht völlig auf derlei als Luxusartikel beurteilten Dinge, selbst wenn dann nicht genug Geld bleibt für gesunde Ernährung oder eine neue Hose, obwohl die alte längst zerlöchert ist. Die Herausrechnung führt so faktisch zu Einschnitten in das Existenzminimum, denn im Ergebnis haben die Leistungsbeziehenden weder für „Luxus“ noch für gesunde Ernährung Geld.
Ansparen trotz Mangel nötig…
Für langlebige Konsumgüter wie Metallwaren und Elektroartikel wird ein monatlicher Bruchteil von rund 1,64 EUR veranschlagt. Eine günstige Waschmaschine kann bei eisernen Sparanstrengungen also nach gut 13 Jahren angeschafft werden, für billige Toaster und Kaffeemaschine muss jeweils ein weiteres Jahr gespart werden.
…auch auf Kosten der Kinder
Für den gesamten Hygienebedarf von Babys und Kleinkindern werden 7,86 EUR monatlich zugestanden. Der Betrag ist mit preisgünstigen Windeln bereits nach einem halben Monat aufgebraucht – hier stinkt der gesetzlich verordnete Mangel im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel.
Niemand, der Kinder hat, kann nachvollziehen, warum die notwendigen Ausgaben für ein Vorschulkind um 33 Euro und für Jugendliche ab 14 Jahren um 45 Euro gestiegen, die Kosten für ein Kind ab sechs Jahren aber nahezu unverändert geblieben sein sollen. Diese unerklärlichen Unterschiede verweisen auf die Problematik der statistischen Grundlage hin: weil viel zu wenig Fälle betrachtet werden, schlagen hier Zufälle durch, die nicht aussagekräftig sind. Die Berechnung des Regelsatzes von Jugendlichen etwa für die Kosten eines Fahrrads beruhen auf Angaben von nur 14 Haushalten.
Bitte nachbessern
Es bleibt dabei: Die Hartz IV-Regelsatzberechnungen sind zweifelhaft und ungenügend. Alte Probleme werden fortgeschrieben. Es braucht endlich eine ergebnisoffene und transparente öffentliche Debatte über die Berechnung eines Regelsatzes, der verlässlich das Existenzminimum abbildet und die soziokulturelle Teilhabe der Betroffenen an unserer Gesellschaft sichert.