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Und täglich grüßt die Demografie

Wie die Arbeitgeberseite erneut versucht, in der Debatte um die Zukunft des Sozialstaats mit alten Hüten zu punkten.

Erst kürzlich betitelte Gesamtmetall sein neues Magazin „Perspektiven“ mit einer bedrohlichen 40 %. Ein graphischer Beitrag zur Unterfütterung der Arbeitgeberforderung, die Sozialversicherungsbeiträge zu deckeln. Empirisch schwach belegbar wurde hier der Fokus auf das ewige Argument des Wettbewerbsnachteils gelegt: Bleiben die Sozialversicherungsbeiträge unter 40%, sind Lohn- und Lohnnebenkosten (noch) international „wettbewerbsfähig“, übersteigen sie diese Grenze, werden sie zum entscheidenden Standortnachteil. Diesem Argument haftet allein schon deshalb etwas Magisches an, weil die Lohnkosten, die die Basis der Beitragssätze bilden, selbst keinesfalls in ihrer Höhe vorausgesetzt sind, sondern Ergebnis individueller Vertragsaushandlungen oder kollektiver Tarifauseinandersetzungen sind.

Kennerinnen und Kenner der sozialpolitischen Diskurse wissen jedoch, dass dieses Argument häufig vom „Demografieargument“ begleitet wird, das aus einer Umverteilungsfrage zwischen Klassen eine Verteilungsfrage innerhalb der Klasse konstruiert. Dieser Leitlinie folgen die neusten Veröffentlichungen der INSM, einem arbeitgeberfinanzierten Think-Tank, die auf Basis einer bei prognos in Auftrag gegebenen Studie verlauten, dass die demografische Entwicklung zu starken Beitragssatzerhöhungen führen wird, die den Gesamtbeitragssatz 2040 bei 46 % sehen. Die exakten Annahmen und Modellierungen der Prognoserechnungen sind unbekannt. Klar ist aber, sie sind genauso mit Vorsicht zu genießen, wie alle anderen Prognosestudien. Gemeinsam mit Corona-Effekten (die schon im letzten Jahr seitens der Arbeitgeber gerne als Argumentationsgrundlage für Deregulierung und Sozialabbau genutzt wurden) und angespannter Haushaltslage kommt man so zum Schluss, dass der Sozialstaat zu einem Problem für die jüngeren Generationen werde. So der Geschäftsführer der INSM, Hubertus Pellenghar:

„Die langfristige Tragfähigkeit muss in den Mittelpunkt der Sozialpolitik gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat eben klar und deutlich gemacht, dass eine Generation Freiheiten nicht auf Kosten einer anderen ausnutzen darf. Das muss auch das Leitbild für unser Sozialversicherungssystem bleiben.“

 

Falscher Fokus

Die INSM zäumt die Sozialpolitik vom falschen Ende her auf. Sie bleibt eine Antwort schuldig, was daran generationengerecht sein soll, nicht die sozialen Bedarfe in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Begrenzung der Ausgaben. Heutige und zukünftige Generationen werden doch etwa bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Rente oder Arbeitslosigkeit auf angemessene Leistungen angewiesen sein. Das dürften auch die Verfassungsrichter*innen in Karlsruhe nicht anders sehen. Schließlich lautet das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht: Sozialstaat ja, aber er darf nicht zu viel kosten.

Die Einfachheit von Kostenargumenten verfängt durch ihre bewusst unterkomplexe Auslassung der Leistungsseite jedoch schnell. Die SZ griff das verfügbare factsheet von prognos zur Studie auf und erhob das nüchterne Prognoseergebnis: „Arbeitnehmer müssen ohnehin bald viel mehr in die Renten- und Krankenkasse zahlen – wegen der Alterung der Gesellschaft. Ein Gutachten zeigt, dass politische Eingriffe die Kosten zusätzlich erhöhen. direkt zur Unterüberschrift.

Hierbei ist klarzustellen: Die demografische Entwicklung zu verleugnen wäre höchst unseriös. Ebenso unseriös ist jedoch, mögliche Implikationen der demografischen Entwicklung als in Stein gemeißelte Fakten darzustellen und damit Sozialabbau als „objektiv notwendig“ zu rechtfertigen. Die eigentliche Frage, die es anhand der demografischen (und anderer, wie z.B. der Transformation der Automobilindustrie) Entwicklungen zu beantworten gilt ist, wie man unter veränderten Rahmenbedingungen soziale Sicherung solidarisch und nachhaltig finanzieren kann. Denn die Nachfrageseite dieser recht ökonomischen Betrachtungsweise des Sozialstaats wird nicht beleuchtet. Kurios, denn die Nachfrage nach sozialer Sicherheit ist nicht preiselastisch, d.h. sie lässt sich nicht durch Preissignale steuern. Ein Beinbruch muss immer behandelt werden, egal wie hoch der Krankenversicherungsbeitrag ist und auch Pflegebedürftigkeit ist keine „Entscheidung“, die man vom Geldbeutel abhängig macht. Doch wie sollen Leistungen finanziert werden, wenn die Beiträge zur Sozialversicherung gedeckelt werden? Die Antwort der INSM, Gesamtmetall etc. ist klar: Privatisierung. Also ein Rückzug der Arbeitgeber aus ihrer Verpflichtung und die Verlagerung der Kosten (und Risiken durch Kapitalmarktanlagen) auf die Beschäftigten.

Ein kritischer Coup wäre der SZ gelungen, wenn sie dies herausgearbeitet hätte. Die angemessene Unterüberschrift hätte dann lauten müssen: „Arbeitnehmer müssen durch Privatisierungen bald einen viel höheren Anteil ihrer Kosten für soziale Sicherung zahlen – weil die Arbeitgeber sich ihrer Verantwortung entziehen. Ausbleibende politische Eingriffe werden Kosten und Risiken für Arbeitnehmer erhöhen.“

 

Weg vom Zahlenformalismus

Es ist ein lange unangefochtenes Strukturprinzip der Sozialversicherungen, dass diese paritätisch, hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu finanzieren sind. Dieses steht auf dem Fundament der Überzeugung, dass der Sozialstaat gegen soziale Risiken abzusichern hat – Risiken, die direkt aus den gesellschaftlichen Umständen hervorgehen, die ein kapitalistisches Wirtschaftssystem produziert. Risiken also, die individuell nicht zu verantworten sind und deren angemessene Versicherung individuell teilweise gar nicht, teilweise nur zu horrend höheren Kosten möglich wäre, woraus sich eine Verpflichtung kollektiver Absicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergibt. 

Nach dem Bruch der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung von 2015-2019 soll mit der 40 % Debatte dieser Konsens erneut heimlich still und leise durch die Hintertür gebrochen werden. Sozialpolitik als Kostendebatte, nicht als politische Arena, in der Gerechtigkeitsfragen diskutiert, Umverteilung betrieben und kollektive Solidarität praktiziert wird. Ein Bild, das bewusst formalistisch, kalt und ohne Berührungspunkte mit der Lebenswirklichkeit von abhängig Beschäftigten auskommt. Ein Bild, das den Sozialstaat bewusst zu einer lästigen Institution degradiert. Ein Bild, das letztlich dazu dienen soll, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu zerbrechen.

Das sollten vor allem aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nicht zulassen. Denn die Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats hat das Potenzial, die Interessen abhängig Beschäftigter zu bündeln, zu artikulieren und ihrer Stimme politisches Gewicht zu verleihen. Allein deswegen sollte sie nicht den Zahlenformalisten überlassen werden.